Zum sechsten Mal fand der vom Kulturkreis veranstaltete Wettbewerb unter Dichtern in der Aula der Freiherr-vom-Stein-Schule statt und erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Waren bei der ersten Veranstaltung dieser Art noch sieben Tische aufgestellt, nahmen in diesem Jahr mehr als 100 Gäste an 13 Tischen Platz. Ob Freundeskreise oder Zufallsbekanntschaften: Beim gemeinsamen Picknick motivierten oder belohnten sie die Poetry-Poeten mit Applaus und bewerteten ihre Beiträge.
Für viele, die von Anfang an dabei waren, ist Moderator Jan Cönig, mehrfacher Hessenmeister und Finalteilnehmer der deutschsprachigen Meisterschaften, bereits ein vertrautes Gesicht. Wie jedes Jahr erklärte er nicht nur die Regeln des Literaturwettstreits, sondern brachte das Publikum auch mit eigenen Beiträgen in Stimmung.
Die Regeln sind schnell erklärt: Die Texte, für die es keine Vorgaben gibt, müssen selbst geschrieben sein. Die Präsentation darf nicht länger als sechs Minuten dauern, dabei sind keine Hilfsmittel zugelassen. Die Künstler dürfen aber durchaus ihren Text vom Blatt ablesen, was die meisten an diesem Abend taten. Nach dem Auftritt bewertet das Publikum Text und Performance. Ein Punkt ist die niedrigste Wertung, fünf Punkte Durchschnitt und zehn Punkte stellen die beste Bewertung dar. „Zehn Punkte gibt es für Texte, die ihr Leben verändern“, erläuterte Cönig den Maßstab.
Vor dem Auftritt des ersten Talents brachte Cönig das Publikum mit einem eigenen Beitrag über Männlichkeit im rosafarbenen Kampfanzug zum Lachen und berichtete, wie ein „Pinky“ genannter Senior wohl das Training der Kampfsportart Krav Maga erleben würde.
Ganz im Sinne von Poetry-Slam-Begründer Marc Kelly Smith, der Gedichte schreibende Bauarbeiter aus Chicago, kann sich jeder ins Rampenlicht begeben, ob er unterhalten will oder eine Botschaft hat, ob witzig, verzweifelt oder nachdenklich. Vier Talente traten gegeneinander an, die Cönig in Abstimmung mit Ariane ten Hagen und Christine Brandt-Kotthaus, beim Kulturkreis für Kleinkunst und Kabarett zuständig, ausgewählt hatten. Die Künstlerinnen und Künstler unternahmen einen wilden Ritt durch eine ganze Brandbreite an Themen und Emotionen.
Den Anfang machte Emil Engelhardt aus Hannover, der seinen Künstlernamen „Tischbein“ inzwischen abgelegt hat. Der Veranstaltungstechniker am Staatstheater und an der Staatsoper in Hannover ging am Ende als Sieger des Wettbewerbs hervor. Bezeichnender Weise nahm er „Erste Worte“ unter die Lupe, ob die ersten Worte eines Kleinkindes oder die Bedeutung der ersten Worte bei der Begegnung völlig Fremder. Die Bewertung des ersten Beitrags durch das Publikum mit überwiegend 8 oder 9 Punkten war schon sehr gut, wurde aber getoppt durch Paula Martine aus Frankfurt mit ihrem sehr emotionalen Beitrag „Female Gaze“.
Die Studentin der Soziologie und Geschichte beleuchtete einen Tag vor dem Weltfrauentag am 8. März auf fast verstörende Weise das Geschlechterverhältnis aus der Sicht von Frauen oder andersherum, den Blick von Männern auf Frauen als hätte es die Frauenbewegung nie gegeben.
Ganz anders wiederum präsentierte sich Jan Holste aus Fulda. Der 33-jährige Sozialarbeiter berichtete, „wie meine Freundin meine Mutter kennenlernte“. Beide rauchten, beugten sich „hysterisch lachend“ über seine Nacktfotos aus Kindertagen und tranken Sekt. Der anekdotenhafte Beitrag gipfelte in seiner Spritztour voller Hindernisse mit einem sogenannten „AOK-Shopper“ zur Tankstelle, um mehr Sekt zu holen. Beim späteren Beitrag „Hörspiel“ zur Bewerbung um das Finale konnte Holste das Publikum zu passenden Geräuschen und Lauten seiner Geschichte animieren.
Bleibt noch die Germanistik-Studentin Natalie Friedrich aus Karlsruhe, die schon vergangenes Jahr dabei war. Ihre Beiträge zu den Themen „Brief an die Kunst“ und über „Zweifel an der Werbung“ waren reich an Facetten, brachten sie aber in der Bewertung nicht nach vorne.
Zuerst sah es danach aus, dass die Künsterlinnen und Künstler sehr nah beieinander liegen und niemand dabei ist, der heraussticht und abräumt, wie ten Hagen bemerkte.
Doch nach der Pause öffnete Emil beim Beitrag Selbstfindung seinen Zopf, schüttelte seine merlotfarbene Haarpracht und kam – ohne vom Papier abzulesen – in Fahrt. Nachdem er ein Outing als Glühwürmchen und Koala-Bär durchdacht und verworfen hatte, präsentierte sich Emil mit seinen stark geschminkten Augen und zur Haarfarbe passenden Nagellack als Chamäleon.
Im Finale traf er auf Paula Martine, die ihren frisch geschriebenen Text, einen Abschiedsbrief mit dem Titel „Du bist nicht mein Mensch“, in die Waagschale warf. Emil hielt mit einem Beitrag über seine geliebte Heimat Odenwald dagegen. Das schöne Bild seiner Heimat verlöre an Farbe, beklagte er, denn der Äppler verfärbe sich braun, da viele sich vergessen fühlten und deshalb nun rechte Parteien wählten. Das Publikum, dessen Applaus am Ende über den Ausgang des Wettbewerbs entschied, gab dem kritischen Odenwälder vor Paula mit ihrer unglücklichen Liebesbeziehung den Vorzug. mi
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