93-jähriger Idsteiner erinnert sich

Das undatierte Foto stammt aus den Unterlagen von Stefan Gelhar und zeigt die Villa Mathilde in der Staufenstraße.

Das undatierte Foto stammt aus den Unterlagen von Stefan Gelhar und zeigt die Villa Mathilde in der Staufenstraße.

Adolf Lang aus Idstein ist 93 Jahre alt. Seit seiner Kindheit beschäftigt ihn das Schicksal der „Jüdin“, wie er und die damaligen Nachbarn Johanna Bäck nannten, die protestantische Ehefrau von Moritz Bäck, einem jüdischen Geschäftsmann aus Frankfurt, die beide in Eppstein wohnten.

1932 hatte das Ehepaar neben seiner Wohnung in Frankfurt die Villa Mathilde in der heutigen Staufenstra­ße 14 gekauft.

Von 1938 datiert ein Dokument im Eppsteiner Stadtarchiv, das Grundstücke und den Besitz jüdischer Bürger in Eppstein erfasst, auf dem auch Bäcks Name erwähnt wird. Noch im gleichen Jahr wurde, den Erinnerungen von Adolf Lang zufolge, in der Villa Mathilde ein Kindergarten von der Gemeinde eingerichtet. „Der Kindergarten war in zwei Räumen im Erdgeschoss untergebracht, in der Wohnung darüber lebte die Erzieherin“, erinnerte sich Adolf Lang bei einem Besuch bei den heutigen Besitzern der Villa, Stefan Gelhar und Juliane Rödl. An den großen Garten auf dem Nachbargrundstück, das heute längst bebaut ist, kann sich Lang besonders gut erinnern – und daran, wie sehr er es bedauerte, dass er den neuen Kindergarten nur wenige Monate genießen durfte, bevor er zur Schule musste.

Das Schicksal des jüdischen Ehepaars Bäck beschäftigt Adolf Lang noch nach fast 90 Jahren

Über Johanna Bäck sei nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden. Als Bub habe er den ein oder anderen Satzfetzen aufgeschnappt. Zum Beispiel, wie sich drei Eppsteiner Frauen schockiert darüber unterhielten, dass Johannas Katze, die ihr Frauchen jeden Morgen ein Stück des Wegs zum Zug begleitete, verschwunden sei, „stell dir vor, die haben die Katze vergiftet!“, wurde damals über die Gestapo, die Geheime Staatspolizei, gemunkelt.

Was davon wahr sei, wisse er nicht, auch nicht, was aus der Besitzerin der Villa Mathilde geworden sei, sagte Lang. Vor etlichen Jahren habe er das Haus schon einmal gesucht, aber nicht gefunden, weil es umgebaut und der riesige Garten verschwunden war. Nach einem der Stolpersteine aus Messing, wie sie in Idstein vor jüdischen Wohnhäusern und der ehemaligen Synagoge verlegt wurden, habe er in der Staufenstraße vergeblich gesucht oder nach einer anderen Inschrift, die an das Schicksal von Johanna Bäck erinnerte, deren Namen er als Kind nicht gekannt habe.

Im Eppsteiner Stadtarchiv gibt es dazu Unterlagen. Stadtarchivarin Monika Rohde-Reith erinnerte, aufbauend auf den Recherchen des ehemaligen Stadtarchivars Bertold Picard, zuletzt im November 2023 zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 in der Eppsteiner Zeitung an die Schicksale der Familien Paderstein und Bäck. Vor knapp einem Jahr wurde aus diesem Anlass neben dem alten Tor zur Villa Paderstein auf Hof Häusel eine Bronzetafel zum Gedenken an die Erbauer, die 1938 vertriebene Familie Paderstein, erinnert.

Über Moritz Bäck, der in Frankfurt zunächst ein Geschäft in der Goethestraße, später das „Chinahaus in der Kaiserstraße führte, berichtet Rohde-Reith, dass er den protestantischen Glauben seiner Frau angenommen hatte. Wegen seiner jüdischen Eltern fiel er spätestens seit 1935 unter das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ und weitere Erlasse zur Diskriminierung jüdischer Bürger. Im Juli 1938 verließ Bäck seine Frau und zog in seine Heimat im heutigen Tschechien. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Ehe mit Johanna geschieden, die den Namen Bäck behielt und das Geschäft in Frankfurt weiter betrieb. Möglicherweise ließ Bäck sich scheiden, um seine Frau zu schützen. Danach weiß man von den beiden, dass Johanna sich am 15. Juli 1940 in ihrem Geschäft in der Frankfurter Kaiserstraße erhängt hat. Moritz Bäck wollte über Polen nach England fliehen, saß aber nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 in Polen fest. Dort habe er 1940 vom Selbstmord Johannas erfahren. Im August 1942 wurde er in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und am 28. Februar 1943 ermordet.

An den neuen Kindergarten erinnert sich Lang bis heute als ein wahres Kinderparadies: Der riesige Garten und die großzügigen Zimmer boten viel Platz zum Spielen. Zuvor war sein Kindergarten in einem kleinen Gebäude an der Brückenmauer untergebracht, vermutlich im Münsterer Weg. Möglicherweise lässt gerade dieser Kontrast ihm seit so vielen Jahren keine Ruhe, dass eine seiner glücklichsten Kindheitserinnerungen so eng mit der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten verknüpft ist.

Lang, der eigentlich aus Idstein stammt, kam wenige Monate nach seiner Geburt am 31. Oktober 1931 zu Pflegeeltern in Eppstein, wo er von 1932 bis 1948 seine Kindheit und Jugend verlebte. An Fliegerangriffe konnte er sich erinnern und bange Nächte in den zu Luftschutzbunkern umfunktionierten Felsenkellern in der östlichen Burgstraße. Nach der Volksschule 1945 begann Lang eine Lehre als Metzger im damaligen „Nassauer Hof“ in Vockenhausen. Später in Idstein machte er seinen Meister, renovierte in den 1950er Jahren für sein Geschäft das „schiefe Haus“ neben dem Idsteiner Rathaus.

Das Haus seiner Pflegeeltern in der heutigen Burgstraße 85 wurde vor einigen Jahren abgerissen. Langs Eltern waren bei seiner Geburt nicht verheiratet, der Vater zudem nicht standesgemäß für die bürgerliche Familie seiner Mutter. „Deshalb wurde meine Mutter damals zur Geburt weggeschickt und ich kam zu Pflegeeltern“, erzählt Lang. Vermittelt wurde er, so die Erzählung seiner Pflegeeltern, von einer der Diakonissen im Eppsteiner Theodor-Fliedner-Haus. Erst nach dem Tod der Pflegeeltern kehrte er zurück zu seiner Mutter, die inzwischen seinen Vater geheiratet hatte.

Zu unserem Treffen in der Staufenstraße hat Adolf Lang einige Schwarz-weiß-Fotografien mitgebracht. Erinnerungsfotos von seinem ersten Schultag, einer Schlittenpartie in der verschneiten Burgstraße, beim Spielen mit einigen Kindergartenfreunden. „Fotografiert hat uns der Fotograf Paul Schiemann aus der Lorsbacher Straße, der ebenfalls noch kurz vor Kriegsende in einer Nacht- und Nebelaktion von der Gestapo verhaftet wurde“, auch daran könne er sich noch erinnern. Schiemann sei zwar nicht jüdischer Abstammung gewesen, aber seine Regime-kritische Haltung sei in Eppstein bekannt gewesen. Über sein Schicksal erzählt seine Tochter Emmy Meixner-Wülker ausführlich in ihrem Buch „Zwiespalt“.

Auch an das Kriegsende mit dem Einzug der amerikanischen Soldaten könne er sich noch erinnern, sagt Lang. Höchst dramatisch sei das gewesen, weil der Ortsgruppenleiter noch Panzersperren und Maschinengewehrstellungen an den Ortseingängen und auf dem Felsen an der Burgstraße errichten ließ, um Widerstand zu leisten. Laut Stadtarchivarin hatte der damalige NS-Bürgermeister Hermann Müller Eppstein noch am 25. März zum Verteidigungsgebiet erklärt und verkündet: „Wer die weiße Fahne hisst, wird erschossen.“

Dem späteren kommissarischen Gemeindeleiter Georg Sparwasser und zwei weiteren mutigen Eppsteinern sei es zu verdanken, dass diese Stellungen beiseite geräumt wurden, bestätigt Lang die Eppsteiner Chronik.

Die Arkaden vor dem Kellergeschoss der Villa Mathilde erkannte Lang bei seinem Besuch vor einigen Wochen dann doch wieder. Über die Begegnung mit den Besitzern Stefan Gelhar und vor allem mit Juliane Rödl, freuten sich Langs Tochter Simone und ihr Vater besonders: „Wir kennen und bewundern Sie seit 20 Jahren“, sagte Simone Lang bei der Begrüßung zu der Chefin der Eppsteiner Burgschauspieler. Die beiden sind große Fans der Burgfestspiele und kommen, wie berichtet, jedes Jahr zur Premiere.

Rödls Ehemann Stefan hat das Haus von seinen Eltern geerbt, die es in den 1960er Jahren gekauft haben. Etliche Umbauten wurden an und im Haus vorgenommen. Doch die ursprüngliche Form mit Arkaden und Zwerchhaus ist immer noch zu erkennen, wie alte Fotos aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zeigen. Ein Ausschnitt aus einer Tageszeitung vom 20. Dezember 1891, den die beiden bei Renovierungsarbeiten entdeckt haben, beweist, dass das Haus mindestens aus dieser Zeit stammt. Weitere Informationen erhofft sich Stadtarchivarin Rohde-Reith von den ursprünglichen Bauunterlagen, die derzeit zur Digitalisierung außer Haus seien. Ihr Vorgänger Bertold Picard berichtet, dass dort um 1900 schon einmal ein privater katholischer Kindergarten war, den zwei ehemalige Nonnen gegründet hatten.

Von Langs Idee, mit einer Gedenktafel an das Schicksal von Moritz und Johanna Bäck zu erinnern, sind Rödl und Gelhar sehr angetan. Platz dafür wäre an der Stützmauer oder an einem der Arkadenpfeiler. Um Text und Gestaltung in Anlehnung an andere Infotafeln zur Historie der Stadt will sich Rohde-Reith kümmern. Der Verschönerungsverein hat sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen.

„Ich möchte gern etwas zur Erinnerung beitragen“, sagt Lang schlicht und hofft, dass seine Initiative dazu führt, dass auch für die zweite bekannte jüdische Familie aus Eppstein eine Gedenktafel angebracht wird. bpa

Weitere Artikelbilder:

Kommentare

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
Sicherheitsprüfung
Diese Frage hat den Zweck zu testen, ob Sie ein menschlicher Benutzer sind und um automatisierten Spam vorzubeugen.
3 + 10 =
Lösen Sie diese einfache mathematische Aufgabe und geben das Ergebnis ein. z.B. Geben Sie für 1+3 eine 4 ein.


X