Der Magistrat hat sich jetzt an einer Petition über Grundsatzfragen zum Beitrags- und Versicherungsrecht in der gesetzlichen Rentenversicherung beteiligt. Das teilte Bürgermeister Alexander Simon in der jüngsten Stadtverordnetenversammlung mit und machte deutlich, wie sich das sogenannte Herrenberg-Urteil auswirken kann.
Auf die Klage einer freiberuflich tätigen Klavierlehrerin aus Herrenberg in Baden-Württemberg wegen Verdachts auf Scheinselbstständigkeit erging im Jahr 2022 die als „Herrenberg-Urteil“ bekanntgewordene Entscheidung des Bundessozialgerichts. Damals wurde festgestellt, dass die freiberufliche Anstellung nicht korrekt war.
Obwohl das Urteil eine Einzelfallentscheidung ist, hatte es weitreichende Konsequenzen – auch für Musikschulen in Hessen. Rund zwei Drittel der 2700 Lehrkräfte, die an etwa 66 öffentlichen Musikschulen in Hessen tätig sind, arbeiten dort ohne Festanstellung.
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) kündigte nach dem Urteil des Bundessozialgerichts an, die Honorarverträge sukzessive zu prüfen und nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge nachzufordern. Immer häufiger stuft die DRV seitdem freiberufliche Lehrtätigkeiten und künstlerische Dienstleistungen als scheinselbstständig ein, obwohl viele Lehrkräfte und Soloselbstständige bewusst die Freiberuflichkeit gewählt haben, um Lehre und weitere selbstständige Tätigkeiten flexibel zu verbinden. Diese Freiheit sei besonders für Dozenten, die nebenberuflich unterrichten, unverzichtbar, darauf weist auch Musikschulleiterin Gesche Wasserstraß hin.
Die Musikschule habe mittlerweile einen Anwalt für Arbeitsrecht eingeschaltet. Um Scheinselbstständigkeiten zu verhindern, müssten die Musikschulen den Lehrkräften Festangestellten-Verträge anbieten. Dies ist im Hinblick auf die Mehrbelastung für den größtenteils ehrenamtlich tätigen Verein kaum händelbar. In letzter Konsequenz würde die Stadt Eppstein sich bereit erklären, den Musikschulbetrieb zu übernehmen und die Lehrerinnen und Lehrer als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt anzustellen. Dies stehe aktuell nicht im Raum, betonte Simon.
Die Musikschule wird vom Verein Musikschule Eppstein-Rossert betrieben. Von der Stadt erhält sie eine jährliche Unterstützung in Höhe von 20 000 Euro. Dank der Reinhard und Sonja Ernst Stiftung wurde das Musikschulhaus Am Herrngarten gebaut und im November 2016 eröffnet. Die Stadt Eppstein stellt die Räumlichkeiten kostenfrei zur Verfügung. Die Musikschule trägt die Umlagen.
Dank eines seit Jahrzehnten anhaltenden Engagements gelingt es bis heute, die Verwaltung und Administration der Musikschule weitestgehend ehrenamtlich zu organisieren. Im Herbst 2024 feierte die Musikschule ihr 50-jähriges Bestehen. Angefangen mit einer Lehrerin und 30 Schülerinnen und Schülern hat sich die Musikschule zu einer festen Institution mit fast 30 Pädagoginnen und Pädagogen und rund 550 Schülerinnen und Schülern entwickelt.
In einer Petition, die bis zum 23. Januar lief, werben Betroffene und Institutionen darum, Grundsatzfragen um das Herrenberg-Urteil neu zu bewerten. Dabei geht es um eine Gesetzesinitiative zur Sicherung der Selbstständigkeit von Lehrkräften und Soloselbstständigen in Bildung und Kultur, worunter auch Musikschulen fallen.
Die Unterzeichner der Petition, zu der auch das Musikschul-Team und die Stadt gehören, sind überzeugt, dass das Herrenberg-Urteil und dessen Auslegung durch die DRV die Existenz zehntausender freiberuflicher Lehrkräfte und Soloselbstständiger und ein über Generationen gewachsenes Bildungs- und Kultursystem gefährden. Deshalb fordert sie, dass die Freiberuflichkeit von Lehrkräften und Soloselbstständigen im Bildungs- und Kultursektor erhalten bleibt und ein Kriterienkatalog für Selbstständigkeit eingeführt wird. Dieser soll branchenspezifische Besonderheiten berücksichtigen und die tatsächliche Selbstständigkeit anerkennen. Das Recht auf Selbstbestimmung müsse erhalten bleiben.
Für Selbstständige, die beispielsweise über die Künstlersozialkasse (KSK) oder freiwillig und nachweislich in die Deutsche Rentenversicherung einzahlen, soll ein vereinfachtes und beschleunigtes Verfahren zur Statusprüfung eingeführt werden.
In dem zu beschließenden Gesetz muss sichergestellt werden, dass Rückforderungen der DRV für zurückliegende Zeiträume ausgeschlossen sind. Eine straffreie Übergangszeit erlaubt es allen Beteiligten, sich auf neue Regelungen vorzubereiten. Wenn die DRV Scheinselbstständigkeit feststellt, zwingt das Bildungseinrichtungen und andere Auftraggeber zu enormen Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen – eine finanzielle Belastung, die keine dieser Einrichtungen tragen kann und die zwangsläufig zu massiven Einschnitten, Schließungen und dem Verlust unverzichtbarer Kultur- und Bildungsangebote führen würde.
Nicht zuletzt sehen die betroffenen Lehrer und Musikschulen Einschränkungen der Freiberuflichkeit, die die Struktur und Vielfalt der Bildungs- und Kultureinrichtungen bedrohen. Kürzungen im Bildungs- und Kulturangebot und höhere Kosten würden vor allem jene treffen, die auf bezahlbare Bildung und Kultur angewiesen sind, nämlich die Schülerinnen und Schüler. EZ
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