Ostwärts mit Julia Finkernagel in eine einzigartige Welt

Julia Finkernagel zog die Besucher mit ihrem Vortrag in Bann.
            Foto: Caren Lewinsky

Julia Finkernagel zog die Besucher mit ihrem Vortrag in Bann.

Foto: Caren Lewinsky

Julia Finkernagel füllte mit der Lesung ihres zweiten Sachbuchs „Ostwärts – Oder wie man in der Transsibirischen Eisenbahn duscht, ohne seekrank zu werden“, den Bürgersaal in Eppstein, mit rund hundert Besuchern.

Kristine Zabel vom Kulturkreis hatte sie in Zusammenarbeit mit der Stadt Eppstein im Rahmen des Literaturfestivals „Leseland Hessen“ veranstaltet und hieß die weit gereiste Autorin Willkommen.

Nachdem der erste Termin kurzfristig wegen Erkrankung Finkernagels verschoben werden musste, waren die Zuschauer zahlreich zum Nachfolgetermin erschienen. Mit ihrem Handy steuerte Finkernagel ihre Präsentation und die Bild- und Filmbeiträge zu ihrem Vortrag und hielt ihre Zuhörer in Bann. Wer zuvor noch nie über Reisen in den Osten nachgedacht hat, wird es jetzt zumindest beim Lesen ihrer Reiseberichte tun. Die Abenteurerin entführte ihre Zuhörer mit ihren lebhaften und amüsanten Erzählungen ins Baltikum, nach Lettland, Litauen und Estland, ließ eine fabelhafte Welt voll Eis und Schnee, fremde Orte, Kulturen und deren Sitten lebendig werden. Sie erzählte von den, im Nachhinein lustigen Pannen, die solche Expeditionen mit sich bringen.

Mit einprägsamen Bildern unterstrich sie ihre Darstellungen, sodass die Zuhörer eintauchten in die Fahrt auf der MS Vilnius, mit Kameramann Michael Matz. Die Zuschauer spürten die Last des 16 kg schweren Rucksacks, schmeckten den Borschtsch. Finkernagel beschrieb Spuren aus fünfzig Jahren Zugehörigkeit zur Sowjetunion wie ein Sanatorium (das heute wieder in Betrieb ist), das als Tarnung für einen darunter liegenden Atombunker diente. Sie erzählte von der Baltischen Kette, mit der 1989 die Loslösung der baltischen Staaten von der Sowjetunion losgetreten wurde, die sogenannte „Singende Revolution“: Über sechshundert Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius hatten sich mutige Esten, Letten und Litauer an den Händen gehalten und für Freiheit gesungen.

Gespickt mit unterhaltsamen Pointen führte die Erzählerin ihr Publikum in ein Sanatorium an der Biegung des Flusses Gauja, unter welchem sich ein Schutzbunker befindet – während der Sowjetzeit ausschließlich für die männliche politische Elite Lettlands errichtet. Bis 1993 hielt der Bunker seine Tarnung aufrecht. Heute können Chefbüro, Abhörapparate zur Überwachung der Patienten und eine Direktleitung nach Moskau besichtigt werden, ein Partyraum mit Westmusik auf Schallplatten, welcher heute für Feierlichkeiten „von Hardcore-Nostalgikern“ gemietet werden kann und ein Filter, der den Bunker drei Monate mit genügend Sauerstoff versorgten konnte. Heute ist dort ein Sanatorium mit Hotel und Rehazentrum.

Die Zuhörer lauschten wie gebannt. Die Reise brachte die Journalisten in den Norden Estlands, nach Kihnu, eine der circa 1500 Inseln nahe dem Festland. Finkernagel und ihr Team betraten diese urige sieben Kilometer lange und drei Kilometer breite Insel mit einigem Unbehagen, da Reporter dort normalerweise verjagt werden. Mit ihrer offenen Art gelang es Finkernagel Mare, eine der vierhundert sehr distanzierten Einheimischen, für sich zu gewinnen. Durch Internetrecherche wusste sie, dass die Einwohner weder zu einem Händedruck, geschweige denn zu einer Umarmung genötigt werden durften. Wider alle Erwartungen wurde sie lächelnd mit Umarmung begrüßt. Statt Blumen gab es eine Flasche Jägermeister, spätestens da war das Eis gebrochen. Julia Finkernagel kehrte noch viermal zum Drehen zurück: für eine Jahreszeitenreportage für ARTE und einen Dokumentarfilm über Mares Tochter für den Kinderkanal..

Auf Kihnu fährt man zum seit Sowjetzeiten Moped mit Beiwagen. Es gibt weder Polizeistation noch Krankenhaus oder Feuerwehr. Die Frauen tragen traditionell selbstgewebte Röcke in Rot mit Streifen in Pink, Gelb oder Weiß. Dunkle und blaue Farben werden ausschließlich in Trauerzeiten und nur von erwachsenen Frauen getragen. Kinder tragen die Röcke immer in Rot, sie sollen immer fröhlich sein. Auf diesem Eiland wird gerne und fröhlich gefeiert. Damit niemand angetrunken draußen erfriert, bleiben alle Türen geöffnet. So kann man morgens früh um vier Besuch bekommen oder jemanden auf dem Sofa vorfinden, der seinen Rausch ausschläft. Verlässt ein Bewohner sein Heim, stellt er einen Stock vor die Tür, damit Besucher wissen, dass niemand da ist.

Die Sauna, als keimfreier Ort der Hygiene wurde früher traditionell für Geburten und ersten Wochen danach genutzt. Auch die saunierende Pressefrau genoss dieses Ritual und tauchte danach durch eine dünne Eisschicht in die 4 Grad kalte Eiswanne ein, während sich die Männer zum gemeinsamen Umtrunk ins Warme setzten. Dieses Ritual mache Mare immer samstags und vor festlichen Aktivitäten: Hausreinigung, Kochen, dann in die Sauna.

Viele der Ehemänner fahren zur See oder arbeiten mehrere Wochen auf Frachtschiffen. Auch Mares Mann tritt alle vier Wochen die Heimreise an und muss sich dann das Zepter erst einmal zurückerobern.

Zu einem großen dreitägigem Fest im Juli kamen Finkernagel und ihr Team wieder. Mit tausend Menschen war die Insel mehr als voll. Kinder wurden auf den Boden verbannt, Matratzenlager errichtet, die Inselbewohner verkauften Seehundfleisch und selbstgemachte Spezialitäten. Matrosen machten Wettkämpfe mit Tauziehen und Gewichtheben. Eine Familie trat von der Urgroßmutter bis zum jüngsten Familienmitglied mit Akkordeon auf. Die Touristen nahmen Tanzunterricht.

Der zweite Teil der Lesung führte die Zuhörerschaft nach Russland. Finkernagel machte deutlich: russische Züge kommen nie zu spät! Mit der transsibirischen Eisenbahn, einem riesigen Zugnetz, welches nur funktioniert, weil alle Züge pünktlich sind, ging es von Moskau bis nach Irkutsk in Sibirien. Mit einer Fanfare wurden die Einsteigenden bis zum Sonderzug „Zarengold“ begleitet. Dort erwartete die Passagiere ein elegantes Restaurant, Duschen und ein persönlicher Weckdienst. Sie selbst fuhren mit einem normalen Regelzug. Da mit Kohle geheizt wurde, erwärmte sich ihr Abteil über Nacht auf 35 Grad, dessen Fenster außen mit Eiskristallen bedeckt war. Die Reporterin erprobte das Großraumabteil und schlief mit den Füßen über dem Durchgang, weil die Betten zu kurz waren.

In der Pause und nach der Präsentation unterhielt sich die Refererentin mit ihren Fans. Man findet Julia Finkernagels Podcast nun auf Spotify. Er heißt "Ostwärts - Reisen zwischen Fernweh und Fettnäpfchen".  Am Samstag, 16. November, ist Julia Finkernagel zu Gast in der MDR-Livesendung „Der große Fernweh-Abend“ und erzählt mit ihren Kollegen Thomas Junker und Thorsten Kutschke vom Reisen. Im Frühjahr kommt Julia Finkernagels neues Buch „Reisefieber“ heraus.

ccl

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